Unser Lehrkonzept

Kontroll- oder Überlebensmedien? Perspektiven aus Queer-Feminismus, Postmarxistischen, Dekolonialen und Disability Studien auf Digitalität

Dr. Aljoscha Weskott | Dr. Ute Kalender

Lückenlose Kontrolle und Überwachung? Kapitalistische Inbesitznahme jeder Lebensregung? Geschlechtliche, politische und prothetische Potentiale? Oder gar Überlebensmedien? So divers die Beiträge zum Thema Digitalität, so umkämpft die Frage, wie sie wissenschaftlich, politisch und aktivistisch einzuschätzen ist – im Mittelpunkt unseres Seminars steht eine intersektionale Perspektive auf das Thema Digitalität. Anhand aktueller Beiträge aus Kultur- und Medienwissenschaften, aus marxistischem, queerem und transgender Feminismus sowie aus postmigrantischen und Disability Studien erarbeiten wir einen umfassenden Blick auf jene globalen Prozesse, die derzeit Digitalisierung genannt werden.

Das geblockte Seminar umfasst eine ausbalancierte Mischung aus neueren Methoden (Advance Organizer; Twitter Nachricht) und bekannten Methoden (Feedback; Gruppenarbeit) sowie aus darbietender und aktivierender Lehre. Die Methoden werden an die Feinziele, die Seminardramaturgie und die Inhalte angepasst.

 

1 Lehrveranstaltungstyp

Seminar (2 oder 3 Blöcke)

2 Inhalt

Den Inhalt des Seminars bilden aktuelle Beiträge aus Gender, Queer, Postmarxistischen, dekolonialen sowie Disability Studien zu Digitalität und digitalen Medien. Sie stellen Digitalität und digitale Medien in das vielschichtige Spannungsfeld neuer kapitalistischer Kontrollformen und politischer, ästhetischer und affektiver Potentiale. Die Themenblöcke umfassen Beiträge aus

  1. Kulturwissenschaften und –geschichte

Der Block ordnet Digitalisierung in einen historischen Kontext von Dekolonialisierung, Hybridisierung und älteren digitalen Bild-Medien ein (Stalder; Schneider).

  1. Postmarxistische Beiträge

Solche Beiträge ordnen Praktiken rund um digitale Medien und Plattformen als affektive, feminisierte Arbeit ein und stellen Bezüge zu älteren Sorgearbeits- und der Frauendebatte her (Jarrett; Feminist Review; Fuchs, Sevignani).

  1. Disability Studies

Sie weisen mit Figuren wie iCrip darauf hin, dass Kritiken an Digitalisierung mithilfe behindertenfeindlicher Metaphern Nutzende digitaler Medien oft lediglich pathologisieren, statt gesellschaftliche Probleme rund um die Digitalisierung wesentlich in den Blick zu nehmen (Ng; Reeve).

  1. Postkoloniale, ökofeministische Beiträge

Stefania Milan und Emilio Trere haben 2019 mit einem Special Issue in Television and New Media gefordert, Vorstellungen von Big Data zu dekolonisieren und Standpunkte aus den Globalen Süden stärker in die Debatten um Digitalisierung einzubeziehen (Milan und Treré). Frauenarbeit in Koltanminen des Kongos für Smartphones würden dann stärker thematisiert aber auch das Fehlen von digitalen Daten zu Frauenmorden, wenn staatliche Institutionen in porösen Demokratien wie die Mexikos einfach westliche Big Data Epistemologien übernehmen (Federici, Ricaurte).

  1. Postmigrantische Studien

Der Block arbeitet mit Begriffen wie e-Diapora oder digitaler Passage heraus, dass digitale Infrastrukturen nicht nur neue polizeiliche Grenzregime schaffen, sondern für Geflüchtete auch überlebensnotwendig sind, ja die globale Migration selbst grundlegend verändern (Borkert, Fisher, Yafi; Latonera, Kift).

  1. Queerfeministische Beiträge

Xeno- und glitch-feministische Beiträge nehmen digitalen Rassismus und Heterosexismus in den Blick, verbinden mit digitalen Medien aber auch eine andere Imagination geschlechtlicher Zukünfte oder gar eine umfassende Infragestellung der Hegemonie des Körperlichen (Laboria Cuboniks; Nakurama; Russel).

3 Lehrziele

Das Grobziel des Seminars ist, den Studierenden einen multiperspektivischen und intersektionalen Einblick in zeitgenössische Forschungsbeiträge zum Thema Digitalität und digitale Medien zu vermitteln. Statt die Digitalisierung als rein technischen oder ökonomischen Prozess zu sehen, soll eine Reflexion ihrer sozialen und kulturellen Implikationen einführend vermittelt werden.

Für die Lehrziele sind folgende Fragen leitend: Wie schätzen gender, queer, postmigrantische und kulturhistorische Zugänge Digitalisierungsprozesse, Digitalität und digitale Medien ein? Welche gesellschaftlichen Probleme sehen sie? Aber auch welche Divergenzen gibt es zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Strömungen? Etwa zwischen postmarxistischen und queerfeministischen Ansätzen?

4 Lernergebnis

Die Studierenden sind nach erfolgreicher Absolvierung des Seminars in der Lage die Praxis, das Wissen sowie die Technologien der Digitalisierung intersektional zu reflektieren. Sie können

  • Digitalisierung als historisches und kulturelles Phänomen einordnen,
  • politische, affektive oder körperliche Potentiale von Digitalisierung ebenso wie die Gefahren neuer Diskriminierung, Ausbeutung und Ungleichheiten benennen,
  • wesentliche Begriffe wie iCrip, eDiaspora, digital Orlando, Kultur der Digitalität, Daten-Kolonialismus oder Modulation erklären und diese den unterschiedlichen disziplinären Zugängen zuordnen
  • und davon ausgehend schließlich Spaltungen im digitalen Selbst und Ungleichheiten in Teilhabeverhältnissen benennen.

5 Lehrmethoden

Das Seminar soll als Teamteaching-Seminar in zwei oder drei Blöcken stattfinden. Es setzt eine ausbalancierte Mischung aus aktivierender und darbietender Lehre ein. Auch greifen die Lehrenden auf bekannte und neuere Methoden zurück: Neben Power-Point-Inputs, Feedback, angeleitetem Selbststudium oder studentischer Selbstmoderation der Lehreinheiten werden auch neuere Methoden wie Twitter-Nachricht oder Grafitti eingesetzt.[1]

Aktivierende Elemente im zweiten und dritten Block sind die Stoffauslagerung in Referatsvorbereitung sowie das Verfassen von einseitigen Papern zu jeder Lehreinheit, die bis jeweils einen Tage vor dem Seminar an die Dozierenden geschickt werden.

Das Selbststudium wird dabei durch Lesefragen angeleitet. Die Lesefragen sind einerseits auf die einzelnen Texte abgestimmt. Andererseits binden übergeordnete Lesefragen jede Lehreinheit an das Grobziel der gesamten Veranstaltung rück. Die übergeordneten Fragen lauten zum Beispiel: Was bedeutet die Figur des iCrip? Welche Kritik formulieren die Disability Studies damit an Virtualitätsvorstellungen von Medizinkritikerinnen? Welchen Begriff von Digitalität hat die Autorin? Wie bewertet sie Digitalisierung? Der Aufbau der Paper (Zusammenfassung, Bewertung, Ausblick) und Qualitätserwartungen an Referate werden im ersten Block kommuniziert ebenso wie die Lernziele.

Beispiel Methodeneinsatz

  1. Tag des zweiten Blocks

(6 ½ Lehreinheiten)

  • Advance Organizer (Einstieg in den zweiten Block; Lernen bereits vor der eigentlichen Stoffvermittlung unterstützen)
  • Impulsreferate und ggf. Moderation der Lehreinheit (selbstständig aufbereiteten Stoff an das Seminar transferieren, Moderationsfähigkeiten trainieren)
  • Textarbeit in Gruppen mit anschließender Diskussion (monologisierenden Frontalunterricht bei Referatsausfällen vermeiden)
  • Dozierende fassen Ergebnisse zusammen, setzen sie in übergeordneten Kontext, weisen auf Querverweise hin (Sicherung der Lernziele und des inhaltlichen Niveaus)
  • Graffiti-Methode (führt längere Lernphase zu zentralen Aussagen, dient der ganzheitlichen Speicherung, schließt ersten Tag ab)
  • Feedback (Dozierende können eigene Defizite erfassen und Rest des Seminars justieren)

6 Prüfungsmodus

Je nach Institut- und Modulvorgaben. Wir schlagen vor: Zu erbringende Leistungen sind aktive Teilnahme, Referate und ggf. die Moderation einer Lehreinheit. Statt einer Hausarbeit sollen die Studierenden zu den Texten jeder Lehreinheit ein einseitiges Paper verfassen. Die Paper sollen bis jeweils einen Tag vor dem Seminar an die Dozierenden geschickt werden. Dahinter steht der Gedanke, dass die prägnante Argumentation geübt wird, die Studierenden gut vorbereitet sind und ihnen die aktive Teilnahme leichter fällt. Schließlich sind die Seminare nach dem Block abgeschlossen und eine mögliche Skype-, Email- oder Telefon-Kommunikation entfällt.

7 E-Learning

Das Seminar ist teildigitalisiert.[2]Digitalisierte Texte werden auf Plattformen des Zentrums oder vorab per Email zur Verfügung gestellt. Die Dozierenden ermutigen Studierende zum Einsatz von Power-Point, Film- und Audiomaterialen sowie neuen Medien und setzen sie selbst ein. Beispiele sind pop-performative Präsentationen der Glitchfeministin Legacy Russel oder Mitschnitte der Young Migrant Voices, einer Gruppe, die den Film-Einsatz von Smartphones als politisches Instrument anleitet.[3]

8 Literatur

Deleuze Gilles. 1993. Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 254–262.

Federici, Silvia. 2019. Hexenjagd. Die Angst vor der Macht der Frauen. Münster: Unrast.

Feminist Review 2019. Virtually Absent. The Gendered Histories and Economies of Digital Labour. 123(1), November 2019.

Fuchs, Christian, Sebastian Sevignani. 2013. What is Digital Labour? What is Digital Work? What’s their Difference? And why do these Questions Matter for Under- standing Social Media? In tripleC 11(2): 237-293, 2013 http://www.triple-c.at.

Haggerty, Kevin D., and Richard V. Ericson. 2000. The Surveillant Assemblage. British Journal of Sociology51(4), 605–622.

Hester, Helen. 2018. Xenofemimism. Cambridge: Polity Books, 70–139.

Jarrett, Kylie. 2016. Feminism, Labor and Digital Media: The Digital Housewife. New York: Routledge, 1–27.

Jenzen, Olu. 2017.
Trans Youth and Social Media: Moving Between Counterpublics and the Wider Web. A Journal of Feminist Geography24(11), 1626–1641.

Laboria Cuboniks. 2014. http://laboriacuboniks.net/de/index.htmlXenofeminismus – Eine Politik für die Entfremdung.

LatoneroMark,Kift, Paula. 2018. On Digital Passages and Borders: Refugees and the New Infrastructure for Movement and Control. Social Media and Society, January–March 2018, 1–11.

Milan, Stefania, Emiliano Treré. 2019. Television and New Media. Issue 4, Special Issue: Big Data from the South, May 2019, 319–419.

Nakurama, Lisa. 2015. Rassismus, Sexismus und der grausame Optimismus im Gaming. In Armen Avanessian, Helen Hester (Hg). Dea ex machina, Merve: Berlin, 45–57.

Reeve, Donna. 2012. Cyborgs, Cripples and iCrip: Reflections on the Contribution of Haraway to Disability Studies. In Goodley, Dan, Bill Hughes, Lennard Davis (Hg.), Disability and Social Theory. New Directions. Palgrave Macmillan, 91–111.

Ricaurte, Paola. 2019. Data Epistemologies, Coloniality of Power, and Resistance. Television & New Media · March 2019 DOI: 10.1177/1527476419831640

Russel, Legacy. 2018. On #GLITCHFEMINISM and The Glitch Feminism Manifesto.http://beingres.org/2017/10/17/legacy-russell/, 1. September 2018.

Stalder, Felix. 2016. Kultur der Digitalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–21.

 

 

[1]Vgl. Hendrik den Ouden und Eva-Maria Rottlader. 2017. Hochschuldidaktik in der Praxis: Lehrveranstaltungen planen. Ein Workbook. Opladen/Toronto: Barbara Budrich, 151.

[2]Vgl. Jürgen Handke. 2017. Handbuch Hochschullehre Digital. Leitfaden für eine moderne und mediengerechte Lehre. Baden-Baden: Tectum Verlag, 58–69.

[3]Vgl. https://de.qantara.de/inhalt/workshop-migrant-voices-in-social-media.